Das Lauterbach-Syndrom

Vom Experten zum Entscheider

Die problematische Kommunikationsrolle des Bundesgesundheitsministers.

Prof. Dr. Karl Lauterbach ist nicht nur kommunikativ ein Phänomen. Während der omnipräsente Hinterbänkler der SPD-Bundestagsfraktion noch vor wenigen Monaten überschaubare Bekanntheitswerte besaß, steigt seine Beliebtheit nun von Woche zu Woche. Kühne Kommentatoren behaupten sogar, der Druck der Twitter-Gemeinde hätte Olaf Scholz keinen Ausweg gelassen, als den Fachpolitiker zum neuen Bundesgesundheitsminister zu ernennen. Doch in diesem Artikel stehen nicht Befähigung oder Sympathie im Fokus, sondern die Kommunikation des Talk-Show Junkies Lauterbach.

Tatsächlich gehört Lauterbach zu den führenden Twitter-Politikern in Deutschland und besitzt eine Dauerkarte bei Lanz, Maischberger und Plasberg. Kein Akteur der Berliner Politikblase war in den vergangenen fast zwei Jahren der Pandemie so aktiv in Einschätzung und Bewertung der COVID Situation. Ganze 29 mal war er in deutschen Talkshows vertreten. Die hohe Reputation des Politikers Lauterbach zeugt einerseits aus seiner fachlichen Qualifikation, andererseits aus seinen fundierten Statements, die keine parteipolitische Raffinesse besitzen. Dank dieser erfrischenden Positionierung wurde der Politiker Lauterbach in jeder Talkshow zum Experten – ungewöhnlich für einen Bundestagsabgeordneten.

In der Expertenrolle lassen sich Reputation und Glaubwürdigkeit sukzessive entwickeln. Ausbaufähige Rhetorik und eintönige Stimmakzente werden vom Zuschauer überhört, so dass die inhaltliche Botschaft in den Fokus rückt. Und auch wenn eine Aussage nach wenigen Wochen revidiert werden muss, kann man dies einem Experten zugestehen. Schließlich ist irren menschlich und Erkenntnisgewinn gehört zu seinen Aufgaben.

Doch die Ansprüche an seine Rolle haben sich mit der Wahl zum Gesundheitsminister massiv verschoben. Lauterbach ist zwar weiterhin Experte, aber vor allem Entscheider und damit politischer Führer in der Pandemie. Ist das kompatibel mit seinem Drang nach ständiger Kommunikation? Beispiele aus den vergangenem Tagen werfen Fragen auf: So verkündet Lauterbach in einem Live-Interview mit einem Nachrichtensender, dass nach neuster wissenschaftlicher Erkenntnis eine zweifache Impfung keinen vollen Impfschutz mehr gewährleistet. Auf Nachfrage der Moderatorin bestätigt der Gesundheitsminister; nur wer den Booster habe, gelte als vollständig geimpft. Und dann setzt Lauterbach einen Halbsatz nach, in dem er selbst Zweifel an seiner Rolle zeigt: das sage er als Wissenschaftler, nicht als Bundesgesundheitsminister. Ja, was nun? Ist das eine politische Entscheidung des Ministers, eine Empfehlung an das Kabinett oder gar eine Weisung an die Ministerkollegen in den Ländern?

Der Fall Lauterbach zeigt, bei aller persönlichen Reputation agiert jeder Akteur in einer Rolle und muss diese für seine Institution, das Auditorium aber auch sich selbst erfüllen. Die Feuerwehrfrau ist auch beim Besuch von Freunden die Expertin für Brandschutz. Der Unternehmenssprecher diskutiert beim Kneipenbesuch über Wirtschaftspolitik. Rolle und Funktion lassen sich bei aller Reflexion nur schwerlich voneinander trennen.